Geschlechterungleichheit
Unsere Wirtschaftssysteme bevorzugen männliche Interessen. Das muss geändert werden
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Im kollektiven Bewusstsein ist ein Wirtschaftswissenschaftler ein Mann mittleren Alters, bebrillt und mit einem Anzug bekleidet, dessen ungesunde Blässe einen einsiedlerähnlichen Lebensstil verrät, verursacht durch tagelange Aufenthalte in den engen Räumen einer Bibliothek. Natürlich spiegelt dieses Bild weder die Disziplin noch ihre Praktiker besonders gut wider. Denn in den letzten Jahren haben einige Wirtschaftswissenschaftler zum Beispiel mit Kontaktlinsen experimentiert. Dennoch bleibt dieser Stereotyp aufschlussreich: Die grosse Mehrheit der Ökonomen sind Männer und angesichts der Positionen, die sie innehaben und des Einflusses, den sie ausüben, gibt diese Ungleichheit Anlass zur Sorge.
Besonders Ökonomen, die auf den höchsten Ebenen für die Regierung arbeiten, sind viel häufiger männlich als weiblich. In diesen Positionen nehmen Ökonomen viel Einfluss auf politische Entscheidungen. Durch den großen Anteil von Männern unter Ökonomen und auch unter Politikern, überwiegen auch die persönlichen männlichen Erfahrungen, was den Gesetzgebungsprozess stark beeinflusst. Folglich werden männliche Interessen - absichtlich oder unabsichtlich - formell priorisiert und diese Bevorzugung wird auch im Gesetz manifestiert. Denn trotz gegenteiliger Behauptungen, kann eine wirtschaftliche Entscheidung nicht geschlechtsneutral sein; die unterschiedlichen Rollen, die Männer und Frauen in der Wirtschaft spielen, machen das unmöglich. Und hier liegt das Problem: Eine faire Wirtschaftspolitik setzt die Anerkennung dieser Tatsache voraus. Leider gibt es kaum politische Entscheidungsträger, die anerkennen, dass wirtschaftspolitische Entscheidungen durch Geschlechtszugehörigkeit beeinflusst werden, und folglich auch etwas an der derzeitigen diskriminierenden Wirtschaftspolitik ändern wollen. Beispiele für geschlechtsspezifische wirtschaftspolitische Entscheidungen sind etwa die Einführung von Steuererleichterungen, die reichen, vermögenden Männern zugute kommen, und gleichzeitige Kürzungen von öffentlichen Geldern, weshalb alleinerziehende Mütter wieder stärker belastet werden. Das hierbei entstehende Muster ist klar: Wenn es um wirtschaftliche Entscheidungen geht, verlieren Frauen häufig.
Sexismus in der Sparpolitik
Die Sparpolitik, die nach der Großen Rezession 2008 in weiten Teilen Europas umgesetzt wurde, verkörpert diese Benachteiligung. Mit den gleichen leeren Phrasen rechtfertigten die verschiedenen Regierungen die Einführung der Sparpolitik. Sie erklärten, dass alle die Auswirkungen gleichermaßen tragen würden. Diese Versuche, ein Gefühl der nationalen Einheit und der Solidarität zu erzeugen, verschleierten die Realität: die größte Last wurde von Frauen getragen. In Irland wurde das Kindergeld gekürzt, in Portugal die Familienzulagen, in Montenegro die Familienbeihilfen.
Im Vereinigten Königreich, wo die Sparmaßnahmen rigoros durchgesetzt worden waren, wurde bei einer Nachforschung des britischen Unterhauses festgestellt, dass die finanziellen Kürzungen im Zeitraum 2010-2017 zu 86% Frauen belastet hatten, also Frauen insgesamt 79 Milliarden Pfund weniger erhalten hatten. Männer waren viel weniger stark von den Kürzungen betroffen, sie erhielten nur 13 Milliarden Pfund weniger. Aufgrund des Ausmaßes der Ungleichheit wurde in einem UN-Bericht über Armut aus dem Jahr 2018 das von Sparmaßnahmen betroffene Wohlfahrtssystem Großbritanniens als “so sexistisch, dass es genauso gut von einer Gruppe von Frauenfeinden zusammengestellt worden sein könnte" beschrieben und als "eine Schande" gebrandmarkt. Und das ist kein Einzelfall! In Europa gibt es zuhauf Fälle von sexistischer Wirtschaftspolitik. Ein weiteres Sparprogramm mit starker Mehrbelastung von Frauen, gab es in Spanien. Die Soziologin Inés Campillo Poza beschrieb die Wirkung der Sparmaßnahmen als eine "Verstärkung der bereits vor der Krise bestehenden Ungleichgewichte" durch den "weitaus größeren Einfluss auf Frauen". Neben der Kürzung von Sozialhilfen, dem Einfrieren von Gehältern und der Aussetzung von Investitionen - wovon nach Poza hauptsächlich Frauen betroffen waren - schloss das Land auch - was eher von symbolischer Relevanz ist - das Gleichstellungsministerium und kürzte deren Budget von 43 Millionen Euro im Jahr 2008 auf 19,741 Millionen Euro im Jahr 2017.
Im benachbarten Portugal zeigte sich die Regierung mit ähnlich geringem Einfühlungsvermögen. Ein UN-Bericht von 2018 mit dem Titel "The Impact of Economic Reforms and Austerity Measures on Women's Human Rights" (Die Auswirkungen von Wirtschaftsreformen und Sparmaßnahmen auf die Menschenrechte von Frauen) fasst in bedrückender Ausführlichkeit zusammen, wie portugiesische Frauen unter den Auswirkungen von Krise, Finanzpolitik und Sparmaßnahmen litten. Die in der Studie herausgearbeiteten Ungleichheiten belegen, dass die Regierung "weder eine Abwägung der Gleichberechtigung der Geschlechter bei solchen Maßnahmen durchgeführt, noch eine Strategie zum Ausgleich der Ungleichheit entwickelt hat". Von der Senkung der öffentlichen Ausgaben im Gesundheits- und Bildungswesen und der Anhebung der Mehrwertsteuer bis hin zur Einschränkung des Garantierten Mindesteinkommens waren es vor allem Institutionen und Initiativen, auf die Frauen stark angewiesen waren, die am schlimmsten betroffen waren. Diskriminierende Änderungen der Besteuerung verschärften diese Probleme dann noch.
Es kümmert niemanden
Die Abhängigkeit vom öffentlichen Sektor ist das, was Frauen so anfällig für Sparmaßnahmen macht. Geldflüsse im öffentlichen Sektor sind im Kampf für die Gleichstellung der Geschlechter von entscheidender Bedeutung, besonders im Bereich der Sozialfürsorge. Im Zuge der Sparprogramme wurden aber genau in diesem Bereich Budgets gekürzt, besonders in Irland, Spanien, Griechenland und im Vereinigten Königreich. Nach einer Studie des Economic and Social Research Institute (ESRI), mussten in Irland aufgrund von weniger verfügbaren Betreuungsplätzen etwa ein Viertel der Alleinerziehenden ihre Kinder selber betreuen. In Spanien ging es 22% der Familien ähnlich. Auch mangelte es an Betreuungsmöglichkeiten für ältere Bevölkerungsgruppen. Eine Studie von Age UK ergab, dass im Vereinigten Königreich 2018 schätzungsweise 1,2 Millionen Menschen aufgrund von Mangel an Betreuungsplätzen von ihren Angehörigen gepflegt werden mussten.
Und diese Defizite in der staatlichen Fürsorge belasten Frauen offensichtlich viel stärker als Männer. Frauen machen 70% der Arbeitskräfte im Sozialwesen aus. Durch die Budgetkürzungen sind sie nicht nur überlastet (wenn sie ihren Arbeitsplatz behalten konnten), sondern auch unterbezahlt. Außerdem sind Frauen auch häufiger pflegebedürftig als Männer, wie die UN-Forscherin Magdalena Sepúlveda gezeigt hat, hier leiden sie also wieder unter einem strukturellen Nachteil. Weiterhin haben Frauen viel häufiger als Männer die Betreuung von Kindern oder die Pflege von Angehörigen übernommen.
Tatsächlich war der Anstieg der unbezahlten Pflege durch Angehörige so groß, dass in einem UN-Bericht aus dem Jahr 2016 festgestellt wurde, dass ein Viertel der in der EU lebenden Frauen wegen zusätzlicher "Pflege- und anderer familiärer Verpflichtungen" nicht arbeiten konnte. Und hier ist die emotionale Belastung noch nicht erfasst, die es mit sich bringt, Angehörige zu pflegen. Diese Entwicklung steht in direktem Zusammenhang mit einer Warnung der Europäischen Frauenlobby, dass die "Verlagerung von öffentlichen Pflegediensten hin zu unbezahlter Pflegearbeit im Haushalt eine ernsthafte Bedrohung für die Gleichstellung der Geschlechter in Europa darstellt", und wenn diese Verlagerung unkontrolliert bleibt, uns zu einer "Rückkehr zu traditionellen Geschlechterrollen" führen könnte - und damit Jahre des sozialen Fortschritts riskiert werden würden.
Rückschritte gibt es auch bei der Lohngleichheit, wo laut der Studie "Austerity and Gender Wage Inequality in EU Countries" aus dem Jahr 2016 "der relativ geringe Fortschritt, der bisher in Europa erreicht wurde", durch Sparmaßnahmen gefährdet würde. Im Jahr 2018 verdienten Frauen in den 27 EU-Mitgliedstaaten im Durchschnitt 16% weniger als Männer. In Deutschland lag die Differenz nach Angaben des Statistischen Bundesamtes bei 21%. Neben der offensichtlichen Ungerechtigkeit hat diese Differenz auch noch andere weitreichende Auswirkungen, zum Beispiel auf die europäische Krise um bezahlbaren Wohnraum. So hat eine Untersuchung der Women's Budget Group (WBG) aus dem Jahr 2018 ergeben, dass im Vereinigten Königreich die durchschnittlichen Mietkosten 43% des Medianeinkommens einer Frau ausmachen, während sie nur 28% des Medianeinkommens eines Mannes ausmachen. Und das impliziert, dass der Verlust des Arbeitsplatzes für eine Frau ein unverhältnismäßig größeres finanzielles Risiko mit sich bringt als für einen Mann und Frauen dadurch dazu gezwungen sein können, in einem Beschäftigungsverhältnis zu bleiben, in dem sie ungerecht entlohnt oder schlecht behandelt werden.
Wandel von der Spitze aus
Die Sparmaßnahmen haben eine seit langem bestehende Ungleichheit verstärkt und dabei das Ausmaß offenbart, in dem Volkswirtschaften Männer begünstigen, da durch Männer die Regeln einer Volkswirtschaft festgelegt werden und Männer die sind, die am wenigsten leiden, wenn eine Volkswirtschaft ins Straucheln gerät. Und dabei ist die Arbeit, die sie leisten, nicht einmal besonders gut. In weiten Teilen des Westens ist Ungleichheit weit verbreitet, und das nicht nur zwischen den Geschlechtern, sondern auch zwischen Regionen und Generationen. Es ist unumstritten zu sagen, dass unsere Wirtschaftssysteme uns nicht so dienen, wie sie sollten. Die Frage ist: Was können wir dagegen tun?
Um einem Versuch zu starten, diese Frage zu beantworten, sollten wir uns zunächst eine Erklärung der UNO ins Gedächtnis rufen: demnach stellen “Nichtdiskriminierung und Gleichheit einen grundlegenden Aspekt der Menschenrechtsverpflichtungen der Staaten dar". Wie die obigen Ausführungen gezeigt haben, werden diese Verpflichtungen gegenwärtig missachtet - ein Versäumnis, das einen offensichtlichen Ausgangspunkt darstellt. Die Staaten müssen einen Rechtsrahmen zur Prüfung der Wirtschaftspolitik verabschieden, und die unterschiedlichen Rollen, die Männer und Frauen in der Wirtschaft einnehmen, müssen anerkannt werden. Vor diesem Hintergrund sollte die Einhaltung der Grundsätze Nichtdiskriminierung und Gleichheit bei der Umsetzung makroökonomischer Politik eine unmittelbare Verpflichtung sein - sie sollten garantiert werden, sie sollten gängige Praxis sein. Wie wahrscheinlich eine nichtdiskriminierende Praxis angesichts der derzeitigen geschlechtsspezifischen Verteilung von relevanten Positionen ist, bleibt fraglich: Wie die Nobelpreisträgerin Esther Duflo beklagt hat, "gibt es nicht genug Frauen in der Wirtschaftsprofession, Punkt".
Dennoch sind Bemühungen, um die Dinge zu ändern, in vollem Gange. Zum Beispiel möchte die bereits erwähnte Women’s Budget Group einen Anstoß für die Schaffung einer "fürsorglichen Wirtschaft, die die Gleichstellung der Geschlechter fördert" geben. Die Analyse orientiert sich an dem einfachen Mantra: Wer profitiert davon? Die Frage ist kühn und wir alle müssen sie mit größerer Genauigkeit stellen. Denn wenn wir dies nicht tun und die Wirtschaft in überwiegend männlicher Hand bleibt, werden die Hoffnungen auf eine gerechtere Zukunft wahrscheinlich vergeblich sein. Die derzeitigen Verantwortlichen haben gezeigt, dass sie zufrieden damit sind, einem System vorzustehen, das ihre eigenen Interessen bevorzugt, scheinbar ungeachtet der Kosten. Das können wir nicht zulassen. Die wirtschaftliche Diskriminierung von Frauen muss ein Ende haben. Es wurde bereits genug Schaden angerichtet.
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