Eine Kritik am Neoliberalismus

Eine Kritik am Neoliberalismus

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Der Neoliberalismus: Nur wenige würden bestreiten, dass er die Ideologie unseres politischen Zeitalters ist. Seit den 1980er Jahren dominiert er die westliche Politik, untermauert die Regierungsführung, beeinflusst die Kultur und hinterlässt deutliche Spuren in der Gesellschaft. Dabei blieb der Kern des Neoliberalismus lange Zeit unantastbar, -hin und wieder wurden höchstens seine äußeren Rand Aspekte in Frage gestellt. Mit dem Finanzcrash 2008 änderte sich dies jedoch und erschütterte das Vertrauen in eine Ideologie, deren Name bis zu diesem Zeitpunkt nur selten ausgesprochen wurde. Mit der explodierenden Ungleichheit und dem sinkenden Lebensstandard, der folgte, begannen die Leute nach Antworten zu suchen und das System -das ein solches Desaster ermöglicht hatte, in Frage zu stellen.

Obwohl mehr als ein Jahrzehnt später der Neoliberalismus noch immer nicht abgelöst ist, hat sich sein Machteinfluss deutlich verringert. Es ist ein Prozess, den wir in Echtzeit beobachten können: Die Menschen suchen einen Ausweg aus dem aktuellen politischen Modell. Es entstehen neue politische Formationen -sowohl auf der rechten, als auch auf der linken Seite. Man beginnt zu Alternativen zu greifen, die man in früheren Jahren als zu radikal, utopisch oder sogar regressiv abgetan hätte.
 
Aber wieso das ganze? Wovon wollen sich diese Alternativen überhaupt verabschieden? Das Wort Neoliberalismus wird mit einer solchen Regelmäßigkeit - und manchmal auch Nachlässigkeit - verwendet, dass seine Definition verschwommen und seine Grundsätze unklar geworden sind. Und genau darin liegt ein Großteil seiner Macht. Um seinen Fängen zu entkommen, muss man ihn erst einmal verstehen: wie er entstanden ist, wem er Macht verleiht und mit welchen Mitteln er aufrechterhalten wird. Deswegen wird im Folgenden versucht, den Begriff zu zerpflücken, seine Geschichte zu untersuchen und die aus seiner Logik entstandenen Politik, sowie seine Auswirkungen auf die Gesellschaft unter die Lupe zu nehmen.

Seine Entstehung

Obwohl Neoliberalismus mit der Politik von Margaret Thatcher und Ronald Reagan in Verbindung gebracht wird, geht die Geschichte des Neoliberalismus viel weiter zurück - der Begriff wurde erstmals im späten 19 Jahrhundert verwendet. Eine institutionelle Heimat fand er jedoch erst fünfzig Jahre später, als 1947 eine Gruppe Ökonomen auf dem Mont Pelerin zusammenkam. Sie warnten, dass "die wesentlichen Bedingungen der menschlichen Würde und Freiheit verschwunden" seien. Für die Anwesenden - die sich zur Mont Pelerin Society zusammenschließen sollten - waren die Wurzeln der Krise klar und lagen im "schwindenden Glauben an das Privateigentum und den wettbewerbsorientierten Markt". Eine standhafte Verteidigung des zunehmend belagerten freien Marktkapitalismus sei notwendig, - und der Staat müsse sich aus dem Wirtschaftsleben zurückziehen - nur so könne die Freiheit bewahrt werden.
 
Die Angst vor staatlicher Intervention war so stark, dass Sozialdemokraten sich auf einmal im selben politischen Spektrum wie Nationalsozialisten und Kommunisten befanden. Nach dieser Logik war staatliche Planung - ob im amerikanischen New Deal oder im entstehenden britischen Wohlfahrtsstaat - etwas, das es nicht nur zu bekämpfen galt, sondern etwas, das auch eine tödliche Gefahr für den Individualismus darstellt. Staatliche Eingriffe jeglicher Art, so glaubte man, könnten und würden wahrscheinlich zu einer totalitären Herrschaft führen.
 
Für ein modernes Ohr mag das übertrieben klingen, aber man sollte sich an die Zeit erinnern, in der diese Ideen entstanden sind. Friedrich Hayeks Streitschrift Der Weg zur Knechtschaft - die als Gründungstext der Doktrin gilt - wurde erstmals 1944 veröffentlicht, als der Zweite Weltkrieg noch tobte und die Menschen das schreckliche Potenzial totaler staatlicher Kontrolle aus erster Hand sahen. Hayek identifizierte die deutsche und sowjetische Wirtschaftsplanung als Geburtsstätte dieser Tyranneien.  Er verkündete, der ökonomische Liberalismus (und die damit verbundene Reduzierung staatlicher Eingriffe in die Wirtschaft), sei das wirksamste Bollwerk gegen solche Missbräuche.

In den 1950er Jahren erregte die junge Ideologie die Aufmerksamkeit der Reichen, die darin ein Mittel sahen, unerwünschten staatlichen Zwängen zu entkommen - insbesondere öffentlichen Schutzmaßnahmen und hohen Steuern. Durch die großzügige Finanzierung dieser Eliten wurde schnell ein Netzwerk von Denkfabriken auf beiden Seiten des Atlantiks aufgebaut, um das neoliberale Wort unter Akademikern und politischen Entscheidungsträgern zu verbreiten. Trotz dieser finanziellen Unterstützung blieb die Ideologie an den Rändern. Der Nachkriegskonsens war in vollem Gange und die wirtschaftlichen Empfehlungen von Keynes wurden in den meisten westlichen Ländern bereitwillig umgesetzt. Die Regierungen erhöhten schamlos die Steuern - in Großbritannien erreichte die Einkommensteuer 75 % -, erweiterten die öffentlichen Dienstleistungen und bauten die soziale Sicherheit aus. Die Neoliberalen hingegen galten als unzeitgemäß, als Relikte aus der Vergangenheit, und waren gezwungen, abzuwarten.
 
Erst mit den Wirtschaftskrisen der 1970er Jahre bekam der Neoliberalismus endlich seine Chance. Aber als er sie bekam, war sein Ökosystem aus Denkfabriken, Interessenvertretungen und Organisationen gut vorbereitet. Wie sein einflussreicher Befürworter Milton Friedman über die Zeit kommentierte, als die keynesianische Ökonomie zu scheitern begann und die Menschen nach Veränderung rangen, "lag eine Alternative bereit, die man aufgreifen konnte". Und die Welt blickte nicht zurück.

Die Politik

Am bekanntesten ist, dass neoliberale Grundsätze von Thatcher und Reagan (die 1979 bzw. 1980 die Macht übernahmen) „aufgegriffen“ wurden. Thatcher war eine bekennende, eingefleischte Neoliberale. Und hätte es nicht den Widerwillen ihres eigenen Kabinetts gegeben, hätte sie Hayeks Doktrinen buchstabengetreu umgesetzt. Kürzlich veröffentlichte Briefe zeigen, dass sie die Hoffnung hatte, den gesamten Wohlfahrtsstaat zu demontieren. Wie dem auch sei, in ihren 11 Jahren als Premierministerin war sie immer noch in der Lage, die britische Gesellschaft zu transformieren. Durch ein neoliberales politisches Programm mit massiven Steuersenkungen für die Reichen, einer erfolgreichen Zerschlagung der Gewerkschaften, der weitreichenden Privatisierung von Wohnungsbauten, Telekommunikation, Stahl und Gas, der Deregulierung des Finanzsektors und der Einführung von Wettbewerb bei der Bereitstellung öffentlicher Dienstleistungen, - hinterließ sie Großbritannien in einem deutlich veränderten Zustand.

Auch Ronald Reagan hatte einen ähnlichen Weg eingeschlagen: Er entkernte die Macht der Gewerkschaften und kürzte die öffentlichen Ausgaben. Er erklärte, dass "die wichtigste Ursache für unsere wirtschaftlichen Probleme die Regierung selbst ist". Es dauerte nicht lange, bis die Ideologie auch von internationalen Institutionen wie dem IWF, der Weltbank und der Welthandelsorganisation übernommen und in einem noch nie dagewesenen Ausmaß durchgesetzt wurde. Die Ausbreitung war so groß, dass sogar nominell linke politische Parteien wie die britische Labour Party und die Demokraten in Amerika sich schließlich ihren Praktiken beugten und ihre Kernprinzipien übernahmen. Und damit verschob sich das "Overton-Fenster", die Bandbreite der im öffentlichen Diskurs tolerierten Ideen, ein Stück nach rechts.

Die Realität

Die Politik der 1980er Jahre war zweifelsohne die schärfste Form des Neoliberalismus und seine Entwicklung in dieser Zeit ist höchst umstritten. In Großbritannien, wo seine Prinzipien am stärksten befolgt wurden, wurden politischen Ziele oft verfehlt. Das Wirtschaftswachstum -der Heilige Gral der Neoliberalen und Hauptindikator des Fortschritts- war tatsächlich langsamer als in den Jahrzehnten zuvor. Seine Dividenden waren zunehmend ungleichmäßig verteilt - die Ungleichheit stieg dramatisch an. In der Zwischenzeit wurden die Arbeiter durch Thatchers Zerschlagung der Gewerkschaften verwundbar, und ohne den Schutz durch kollektive Maßnahmen wurden die Löhne gedrückt. Somit nahm die Armut am Arbeitsplatz zu, selbst als die Arbeitslosigkeit zu sinken begann. Ähnliche Tendenzen gab es in den USA, wo Reagans massive Steuersenkungen, der Abbau der sozialen Sicherheit (das Streichen der Lebensmittelmarken beispielsweise oder die Erhöhung der Subventionen für Unternehmen), sowohl die Ungleichheit als auch die Armut vergrößerten und gleichzeitig die Taschen des Großunternehmens füllten.
 
Die absichtliche Übertragung von Autorität in die Hände von nicht rechenschaftspflichtigen transnationalen Konzernen war vielleicht eine noch größere Folge der Vorherrschaft der Ideologie. Wichtige Dienstleistungen wurden ausgelagert, und mit der explodierenden Lobbying-Industrie begann das Geld zu regieren. Diese Entwicklung schränkte die Regierung in ihrer Macht ein, auf die Bedürfnisse ihrer Wähler einzugehen. Die resultierende Entmachtung und die Kluft zwischen Herrschenden und Beherrschten führte zur Unzufriedenheit und Unbeständigkeit der Bevölkerung.

Mehr als nur eine ökonomische Theorie

Im Laufe seiner Entwicklung, seiner Verankerung und seiner Normalisierung im öffentlichen Diskurs hat sich der Neoliberalismus, zu einem allgemeineren Rahmen entwickelt, der uns ermutigt, die Welt und uns selbst zu verstehen. Als krönende Errungenschaft hat der Neoliberalismus neu definiert was es bedeutet, ein Mensch zu sein: Der Mensch ist nicht mehr das empfindsame, kooperative und einfühlsame Wesen, das er nach wissenschaftlichen Erkenntnissen ist; er wurde auf einen Konkurrenten reduziert. Der Neoliberalismus hat die Menschen gegeneinander aufgehetzt und die Idee des "Weiterkommens" aufgewertet - wobei die Frage, von wem und mit welchen Mitteln, viel zu selten gestellt wird. Der Neoliberalismus hat uns auch gelehrt, dass unsere demokratischen Entscheidungen am besten durch Transaktionen ausgedrückt werden: ein Prozess der Belohnung von Verdiensten und der Bestrafung von Ineffizienz, dem keine Regierung das Wasser reichen kann. Sie hat im Wesentlichen die Atomisierung gefördert. Sie hat die gesellschaftlichen Bindungen gelockert und die Interessen des Einzelnen über alles andere gestellt. Wie Thatcher denkwürdig verkündete: "So etwas wie eine Gesellschaft gibt es nicht".

 

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